Entdeckungsreise
So legte ich mich mitten in den Besucherstrom auf den Boden, mit dem Gesicht zur Erde, streckte meine Arme aus und hielt inne.
Norbert Kottmann über die Entstehung des Werkes „… und er warf sein Antlitz zur Erde“ (Gethsemane)
Ich weiß nicht mehr so genau, wann ich zum ersten Mal jene mich erschütternde, kleine Zeichnung in der grafischen Sammlung des Städel-Museums in Frankfurt gesehen habe. Dort, im gedämpften Licht der Ausstellung, hing dieses gerahmte Tuschebild, unscheinbar hinter Glas verborgen. Mit leichter Hand, mehr skizzierend hatte dort Albrecht Dürer um 1521 Jesus im Garten von Gethsemane buchstäblich „hingeworfen“.
Mit ausgestreckten Armen lag dort ein Mann mit dem Gesicht zum Boden, wie eine Figur aus einem Stück für „Moderne Tanzperformance“, … aber das lange Gewand, der kleine Engel mit dem Kelch links oben und die eingeschlafenen Apostel allerdings wiesen das Bild zurück in jene bittere Stunde von Jesus im Garten von Gethsemane. Von allen Gefährten im Stich gelassen, spürt er den eiskalten Hauch des Todes und fleht zu seinem Gottvater „… doch diesen Kelch an ihm vorbei ziehen zu lassen“, … „und er warf sein Antlitz zu Boden“. Ungewöhnlicherweise hat Dürer dieses biblische Bildthema umgesetzt, denn konventionelle Darstellungen des Themas zu jener Zeit zeigen Jesus zumeist flehend und kniend im Garten von Gethsemane. Dürer ist da radikaler, herausfordernder.
Eine Steigerung erfährt die Zeichnung durch den Umstand, dass Dürer sie auf seiner niederländischen Reise 1521 geschaffen hat, just zu dem Zeitpunkt, als sich Luther auf seine Rückreise vom Reichstag in Worms befand. Die Nachricht vom Verschwinden Luthers hatte schon die Runde gemacht und selbst Dürer in Antwerpen erreicht. Die Ungewissheit über das Schicksal Luthers war groß, es war zu befürchten, dass die kaiserlichen Häscher ihn aufgegriffen hatten. Dürer war der Reformation zugeneigt und setzte seine Hoffnung auf Luther. In dieser betrüblichen Ungewissheit zeichnete Dürer das Bild – was für ein noch heute nahegehender Moment!
Im Oktober 2017 besuchte ich zum ersten Mal Israel, das „Heilige Land“. Innerhalb eines straff organisierten Reiseprogramms des Bayrischen Pilgerbüros unter dem Thema: „Auf den Spuren Jesu“ kamen wir auch in den Garten von Gethsemane auf dem Ölberg von Jerusalem. Wie bei fast allen „Sehenswürdigkeiten“ war auch hier der Strom der Touristen groß. Der Reisebus wartete schon, wir hatten noch zehn Minuten Zeit, dann weiter, … wo waren wir gestern? Diese bedeutungsvollen biblischen Erinnerungsstätten, diese Heiligen Orte des Christentums schrumpften manchmal zu beliebigen Steinhaufen, zu Objekten für Smartphones. Nun war ich selbst ein Teil dieser Masse, dieses Stroms und nun lag er da, der Garten von Gethsemane. Tausendjährige Olivenbäume spendeten Schatten in der grellen Mittagssonne des Orients. Der Ort begann sich aufzuladen und so legte ich mich mitten in den Besucherstrom auf den Boden, mit dem Gesicht zur Erde, streckte meine Arme aus und hielt inne. Ich fühlte mich geborgen. Ich hatte meine vertikale Spannung verlassen. Ich fühlte mich ihm nahe, ich bekam etwas zurück.
Biografie
- * 1961
- Lebt und arbeitet in Groß-Umstadt
- Reist nicht gerne in ferne Länder, hat aber 2017 eine Pilgerrundreise zu den biblischen Stätten in Israel unternommen
Ausstellung
Bon Voyage!
Reisen in der Kunst der Gegenwart
13. November 2020 – 16. Mai 2021