Bon Voyage!
Sofousi – Silvester auf Wula
ein beitrag von Samuel Herzog
WULA
Die kleine Vulkaninsel Wula ist berühmt für ihren Seehecht, ihre Zitrusfrüchte und ihre Rituale, in deren Mittelpunkt Sofousi steht, die sesoulistischen Gottheit des Neujahrsfestes.
In Valodes jagt man einen Ziegenbock durchs Dorf, dem man ein goldenes Band um die Hörner gewunden hat. Wer es zu fassen kriegt, wird als Manu di Valodes («Hand von Valodes») gefeiert und bekommt das Fleisch der ersten Ziege, die in den nächsten Tagen geschlachtet wird. In Babat gießt man Schweineblut auf den Küchenboden und versucht aus der Form der Lache die Zukunft zu lesen. In Carbelotte stellt man sich in einen Kreis aus Karottenscheiben und dreht sich zwölf Mal im Uhrzeigersinn um die eigene Achse. Wem dabei so schwindlig wird, dass er aus dem Rübenzirkel tritt oder gar fällt, dem stehen im kommenden Jahr einige Überraschungen bevor. In St-Benoît-des-Ondes kaut man kurz vor Mitternacht dreizehn rohe Miesmuscheln mit einer teuflisch scharfen Sauce dazu – und verabschiedet das alte Jahr so mit Tränen in den Augen.
Viele Regionen in Lemusa kennen ganz eigene Rituale für Sofousi, wie das Neujahrsfest hier genannt wird. Den eigentümlichsten Traditionen aber geht man wohl auf Wula nach. Diese kleine Insel liegt vor der Côte du Livan, knapp dreizehn Pep westlich von Gwosgout.
Region: Îles, Puendevis
✆ 07
Höhe: 18 m ü. M. (Kilig)
Einwohner: 123 (Mai 2011)
Spezialitäten: Zitrusfrüchte (Osemine u.A.), Kräuter (Kilig u.A.), Schiktasch (Zerpflückter Fisch mit Zitrusfrüchten, und Kräutern), Makmak (Rinderkutteln in Tomatensauce mit Zitrusfrüchten und Dill)
OSEMINE
Die Osemine (Citrus x osemina) ist eine Kreuzung aus Bitterorange (Citrus aurantium) und einer heute nicht mehr existierenden Frucht, die vermutlich Ähnlichkeiten mit einer Zitronatzitrone (Citrus medica) hatte. Sie wurde im 19. Jahrhundert auf Wula von einer vermutlich aus St-Pierre stammenden Züchterin namens Osemine erfunden. Die Frucht hat eine Form, die wie ein Kompromiss aus Orange und Zitrone wirkt, auch ihre Farbe schwankt in reifem Zustand zwischen Orange und Gelb mit einem grünlichen Schimmer. Das Aroma der Zeste wird meist als eine Mischung aus Zitrone, Orange und Limette beschrieben. Ihr Fruchtfleisch schmeckt wie eine Mixtur aus Passionsfrucht und Zitrone. Die Osemine wird bis heute nur auf Wula angebaut und spielt in der Küche der kleinen Insel eine zentrale Rolle. Gelegentlich wird die Frucht nach einer lokalen Gottheit auch Sofousine genannt.
Das Eiland hat eine Länge von gut drei Pep. Es wird im Süden vom genau 666 Meter hohen Mont Labre bestimmt, im Norden vom 456 Meter hohen Mont Ariko, zwei inaktiven Vulkanen, die jedoch aus heißen Quellen immer noch einigen Dunst in den Himmel aufsteigen lassen und die Luft an manchen Tagen mit einem beißenden Schwefelgestank füllen. Die zwei dampfenden Erhebungen dürften der Insel auch den Namen gegeben haben, denn Wula ist höchstwahrscheinlich eine Verschleifung oder Verkürzung des lemusischen Wortes Wulkan («Vulkan»). Die letzte Eruption von Labre und Ariko liegt lange zurück, wie lange, weiß niemand zu sagen. An den fruchtbaren Abhängen der zwei Berge werden vor allem Zitrusfrüchte und Kräuter angebaut. Die Zitrusgärten sind deutlich älter noch als jene bei Gwosgout, die Georges Chanson in den 1820er Jahren anlegen ließ. Einen besonderen Status hat die Osemine (siehe dort), eine köstliche und für die Küche der Insel sehr wichtige Kreuzung aus dem 19. Jahrhundert.
Wula wird heute von gut hundert Menschen bewohnt, wobei etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Kilig lebt, der größten Siedlung, wo es auch einen Laden und ein Restaurant gibt. Kilig ist eine lokale Bezeichnung für Dill (Anethum graveolens), der hier überall wild wächst und kulinarisch stark genutzt wird. Die Männer von Wula bewirtschaften vor allem die Meereslandschaft rund um die Insel, die für ihren Merlusche (Merluccius livanensis) berühmt ist, einen kleinen Seehecht, dessen Fleisch im ganzen Land geschätzt wird. Die Frauen arbeiten vorwiegend in den Zitrushainen und Kräuterplantagen.
Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein waren die Bewohner von Wula sehr arm. Sie verkauften ihre Produkte ausschließlich auf dem Markt von Gwosgout und erzielten nur schlechte Preise, was auch damit zu tun hatte, dass jede Familie für sich allein wirtschaftete. Die Bäuerinnen pflegten ihr Einkommen früher dadurch aufzubessern, dass sie aus lokalen Quellen Salpeter und Schwefel gewannen, die sie mit Holzkohle zu Schwarzpulver verarbeiten konnten – einige der älteren Wulanerinnen stellen auch heute noch solches Büchsenpulver her, das vor allem in Feuerwerkskörpern zum Einsatz kommt.
Um 1910 kam eine Zitrusbäuerin namens Alice Favre auf die Idee, die Fische, Früchte, Kräuter und auch das Schwarzpulver der Insel per Boot nach Port-Louis zu schaffen. Sie gründete eine Art Kooperative und handelte Verträge mit Wiederverkäufern in der Hauptstadt aus. Das neue System brachte dem Inselchen innerhalb weniger Jahre einigen Wohlstand ein. An die kluge und unternehmungslustige Dame aus Wula erinnert heute noch der Name der Hafenmole von Kilig, die Quai Alice Favre heißt.
Wula hat eine ganz besondere Beziehung zu Silvester und Neujahr, denn die Insel gilt als die Heimat jener sesoulistischen Gottheit, die dem Fest ihren Namen gegeben hat: Sofousi ist eigentlich die Gottheit der Zitrushaine und wird deswegen überall dort besonders verehrt, wo Zitrusfrüchte angebaut werden (zum Beispiel auch in Gwosgout oder in Granchan). Die Ptitsa, also die Vogelgestalt von Sofousi ist der Bawi (Serinus stillans), ein kleiner, mit dem Girlitz verwandter Fink mit rötlicher Brust, der in den Zitrushainen lebt.
Wann Sofousi zur Gottheit des Neujahrsfestes wurde, ist unbekannt, sicher war sie es im 19. Jahrhundert schon, denn Jean-Marie Tromontis erzählt in einem seiner Briefe an Melisende, er habe am 31. Dezember der Göttin Sofousi gehuldigt (Jean-Marie Tromontis: Sensations, émotions, pensées. Port-Louis, 2018. S. 237).
Die Sofousi-Traditionen von Wula haben ihren Ursprung ganz im Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner. Die Männer der Insel versammeln sich zu Beginn der Nosch pèdi (siehe Neujahr auf Lemusisch) in einem Strandhaus im Westen der Insel, wo sie Schiktasch (siehe dort) zubereiten, eine Spezialität aus rohem Fisch (meistens Merlusche), der in Zitrussäure eingelegt, zerpflückt und mit Kräutern vermischt wird. Im Verlauf des Abends greift sich einer nach dem anderen einen Stuhl, schlendert in die Brandungszone hinaus und setzt sich hin, um wenigstens eine halbe Stunde lang mit den Fischen zu sprechen. Die Männer erzählen von ihrem Leben im letzten Jahr, von ihren Wünschen und Träumen. Dann erklären sie den Tieren, warum sie gejagt werden und was ihr Verzehr für den Menschen bedeutet. Schließlich bedanken sie sich. Es existiert keine feste Liturgie für dieses Ritual. Jeder Mann findet seine eigenen Worte, seine eigenen Motive, drückt sich in seiner persönlichen Sprache aus. Manche Männer sollen sogar in der Lage sein, während dieses Rituals ein veritables Gespür für die Fische zu entwickeln, eine Art Antwort aus den Tiefen des Ozeans zu erhalten.
NEUJAHR AUF LEMUSISCH
Auch auf Lemusa begeht man in der Nacht vom 31. Dezember auf den 1. Januar den Beginn des neuen Jahres. Und auch auf Lemusa ist Mitternacht ein wichtiger Moment der Feier. Eigentlich aber sind die meisten Bewohner der Insel überzeugt, dass das neue Jahr erst mit dem Anbruch des ersten Januartages seinen Anfang nimmt. Deshalb dauern die Feste vielerorts auch bis in den Morgen hinein, kennen viele Gemeinden spezielle Rituale, mit denen sie das erste Licht des Tages begrüßen.
Silvester, also die letzte Nacht des alten Jahres, heißt auf Lemusa Nōsch pèdi («verlorene Nacht»), weil diese Nacht in keinen Tag hinein führt. Analog dazu heißt der erste Tag des neuen Jahres Schù pèdi («verlorener Tag»), denn dieser Tag entsteht in der Vorstellung der Lemusen nicht aus einer Nacht heraus (denn die liegt ja noch im letzten Jahr), sondern einfach so, aus dem Nichts – Grund genug, ein wenig verloren zu sein. Das ganze Fest heißt auf Lemusa Sofousi, nach der gleichnamigen sesoulistischen Gottheit, die auf Wula ihre Heimat hat.
Sofousi war ursprünglich nur die Beschützerin der Zitrushaine. Mindestens seit dem 19. Jahrhundert wird sie aber auch als Gottheit des Neujahrsfestes verehrt, das heute sogar ihren Namen trägt. Wie alle Gottheiten im Sesoulismus erscheint auch Sofousi den Menschen ausschließlich in ihrer Ptitsa, ihrer Vogelgestalt. Das hat die Gesellschaft für lemusische Wesen (SPEL, Société pour les êtres lémusiens) nicht daran gehindert, eine Figur für sie zu ersinnen. Die farbenfrohe Erscheinung genießt unterdessen auch auf Wula einige Akzeptanz.
Die Frauen von Wula treffen sich zunächst im Versammlungshaus der Insel in Kilig und bereiten Makmak (siehe dort) zu, ein Gericht aus Rinderkutteln und Zitrusfrüchten, das mit viel frischem Dill gegessen wird. Kurz vor zehn Uhr abends wandern sie zum Mont Labre hinauf und verteilen sich rund um den Krater. Hier sprechen sie mit den Sternen, egal ob sie in dieser Nacht gut zu sehen sind oder sich hinter Wolken verbergen. Die Sterne sind in der Vorstellungswelt der Wulanerinnen und Wulaner so etwas wie kosmische Zitronengeister, die Ohren haben und einen Mund. Die Frauen wählen einen Stern aus und erzählen ihm eine Geschichte, die etwas mit dem vergangenen Jahr zu tun hat und sowohl einen Wunsch wie auch ein Rätsel enthält. Das Rätsel soll fast unlösbar sein, denn es soll bewirken, dass der Stern immer wieder an die Frau denkt und sie also beschützt. Passiert jemandem ein Unglück, dann sagt man auf Wula manchmal auch: «Ohje, dein Zitronenstern hat wohl das Rätsel gelöst!» Auch für das Ritual der Frauen existiert keine feste Formel, jede findet ihre eigenen Worte, führt ihr ganz eigenes Gespräch.
Kurz vor Mitternacht packen die Frauen leere Flaschen aus und montieren sie sich so vor den Bauch, dass sie schräg nach oben zeigen. Sie schieben den Stiel selbstgefertigter Feuerwerksraten in die Flaschenhälse und zünden deren Lunten Punkt zwölf Uhr an. Das leuchtende Bouquet der Wulanerinnen ist auch von der Hauptinsel aus gut zu sehen und hat vielleicht deshalb den Übernamen Aurora livanensis («Morgenröte der Livan-Küste») bekommen.
Bawi | Ein typischer Bewohner von Wula ist auch der Bawi (Serinus stillans), ein kleiner, mit dem Girlitz verwandter Fink. Man erkennt ihn an seiner rötlichen Brust und an den drei rostbraunen Federn, die im keck auf dem Schädel sitzen. Der Name Bawi könnte auf Baba («Schleim») zurückzuführen sein, denn dem Vogel tropft, wenn er sich aufregt, immer etwas Speichel aus dem Schnabel. Das Tier lebt vor allem in den Zitrushainen und ernährt sich von Samen, Knospen und Insekten. Der Gesang des Bawi ist sehr melodiös und manche glauben, darin eine Tonfolge aus der lemusischen Hymne zu hören, den Teil vom Refrain mit dem Text «[Ta] beauté nous fait…». Der Bawi ist die Vogelgestalt von Sofousi, der Gottheit der Zitrushaine und des Neujahrsfestes.
Nach Mitternacht erst treffen sich Männer und Frauen im Versammlungshaus in Kilig, wo sie zunächst das Schiktasch der Männer, dann das von den Frauen vorbereiteten Makmak genießen. Manche gehen dann nach Hause, um sich einen kurzen Moment hinzulegen, andere feiern und tanzen die ganze Nacht durch. Eine Stunde vor Morgengrauen treffen sich alle wieder im Versammlungshaus und wandern gemeinsam zur Nich von Wula, zum Heiligtum der Gottheit Sofousi, das mitten im ältesten Zitrushain der Insel liegt. Sie legen eine ausgeklügelte Mischung von Samen, Blüten und Insekten in die Dukia, die Opferschale des Tempels und locken so den Bawi an, die Vogelgestalt von Sofousi. Eine Zeit lang hören die Wulanerinnen und Wulaner dem melodiösen Gesang des kleinen Vogels zu, dann, wenn die Sonne ganz über dem Horizont steht, singen sie gemeinsam das Lied der Sofousi. Wenn der letzte Ton verklungen ist, hat das neue Jahr begonnen.
Die vormitternächtlichen Rituale auf Wula sind streng nach Geschlechtern getrennt. Eine Frau hat jedoch die Möglichkeit, als Mann am Ritual der Männer teilzunehmen – und ein Mann darf umgekehrt als Frau mit den Frauen auf dem Rand des Kraters stehen. Gelegentlich soll es Frauen oder Männer geben, die nach Sofousi beschließen, das ganze Jahr mit dem nichtbiologischen Geschlecht zu leben. Diese Eigenart der Wulanerinnen und Wulaner mag darauf zurückführen sein, dass sie, um das Sofousi-Ritual erfolgreich absolvieren zu können, früh lernen, Wünsche zu formulieren, Geschichten zu erzählen und ihr Leben als eine Geschichte zu verstehen, auf deren Verlauf und Farbe sie Einfluss nehmen können.
Außenstehende sind von diesen Ritualen ausgeschlossen, sie werden während des Sofousifestes von Wula verbannt.
Inseltypische Rezepte zu Sofousi
Samuel Herzog (*1966) schreibt über seine Reisen, auch wenn sie ihn manchmal nur auf das Dach seiner Wohnung führen, beschäftigt sich mit kulinarischen Themen und widmet sich literarisch-künstlerischen Projekten wie der fiktiven Insel Lemusa, deren Kultur er seit 2001 in Kunsträumen und Publikationen vorstellt. Seit 2002 lebt er in Zürich.
Ausstellung
Bon Voyage!
Reisen in der Kunst der Gegenwart
13. November 2020 – 16. Mai 2021