Kopfreise

Ich denke, es ist wichtig, seine Bedeutung nicht für andere festzulegen.

02.01.2021

Jon Rafman im Interview

Was könnte vor der Aufnahme passiert sein? Wie ging es danach weiter?

Ich möchte meine Interpretation dessen, was zu dem Moment führte, in dem das Bild aufgenommen wurde, ungerne preisgeben. Ich denke, es ist wichtig, seine Bedeutung nicht für andere festzulegen. Ich ziehe es vor, dies jedem Betrachtenden und seiner Vorstellungskraft zu überlassen. Einer der Gründe, warum ich die Street-View-Fotografie liebe, ist, dass wir gezwungen sind, unsere eigenen Interpretationen auf die Bilder zu projizieren; jeder Einzelne wird sein eigenes Verständnis und seine eigene imaginäre Erzählung entwickeln, da die Fotos aus jeglichem Kontext außer der geografischen Lage und der räumlichen Kontiguität herausgerissen sind. Auf einer Ebene kann das Street-View-Bild als neutrale Repräsentation der Realität gesehen werden, die nicht von einem menschlichen Fotografen oder einer Fotografin manipuliert wurde; so kann die Google-Kamera einen Akt echter Dokumentarfotografie vollziehen, indem sie Fragmente des Lebens ohne jegliche kulturelle oder ästhetische Absichten aufzeichnet. Google hat das größte fotografische Archiv der Geschichte geschaffen, um Google Maps eine zusätzliche Funktion hinzuzufügen. Aber damit hat Google das erreicht, was der Kulturtheoretiker Siegfried Kracauer als Aufgabe der Fotografie sah: signifikante Aspekte der physischen Realität darzustellen, ohne zu versuchen, diese Realität zu überwältigen, sodass das Rohmaterial, auf das man sich konzentriert, sowohl intakt bleibt als auch transparent gemacht wird.

Erfüllt Google diese Aufgabe der Fotografie? Welche Aufgabe übernimmt der Betrachtende?

Die Kraft des Bildes kommt von dem, was wir in das Bild einbringen. Spannend ist auch, dass dieser distanzierte Blick der automatisierten Google-Kamera zu einem Gefühl führen kann, dass wir gleichzeitig von allen und von niemandem beobachtet werden. Die Street-View-Bilder, die ich ausgewählt habe, vermitteln die zeitgenössische menschliche Erfahrung in all ihrem Schrecken und ihrer Schönheit. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir theoretisch alle gleichermaßen fotografiert werden können. Dennoch stellt man nach der Erkundung von Street View schnell fest, dass es häufiger die Armen und Ausgegrenzten sind, die in den anonymen Blick der Google-Kamera geraten. Die Street-View-Fotos sind nicht so neutral, wie sie zunächst erscheinen. Google erhebt einen imperialen Anspruch darauf, die Informationen der Welt zu organisieren und platziert das Google-Copyright-Logo auf jedem Bild. Das Street-View-Projekt präsentiert eine Welt, die mit dem vermeintlich distanzierten Blick eines gleichgültigen Auges beobachtet wird. Doch wie ein gleichgültiger Gott sind Googles Kameras Zeugen, die nicht handeln. Wenn es nach Google ginge, könnte die Welt ohne moralische Dimension sein. Es bleibt dem Betrachtenden überlassen, eine moralische Position gegenüber den Aufnahmen einzunehmen.

Welche Aufnahme hat dich am meisten überrascht?

Das eine Mal, als ich meine Ex-Freundin auf Google Street View gefunden habe. Es ist das einzige Foto, das ich von ihr habe. Das ist das einzige Mal, dass ich einem meiner Bilder einen Kontext gegeben habe, da es so persönlich für mich war. Ich habe einen kurzen Film darüber gemacht.

Biografie

  • * 1981 in Montréal, Kanada
  • Lebt und arbeitet in Montréal
  • Studium: 2000–2004 McGill University, 2006–2008 School oft he Art Institute of Chicago
  • Seine Arbeit konzentriert sich auf die emotionalen, sozialen und existenziellen Auswirkungen der Technologie auf das zeitgenössische Leben