Forschungsreise

Jegliches Gefühl für Zeit oder Schwerkraft war verschwunden. Plötzlich spürte ich eine tiefe Gewissheit, dass ich auftauchen sollte, um eine Orientierung zu finden.

29.12.2020

Klara Hobza im Interview

Wie gefährlich sind deine Tauchgänge?

Als ich versuchte, den Nieuwe Waterweg zu durchtauchen, spürte ich einen überwältigenden Sog in Richtung der Mitte der Wasserstraße, wo sich die gigantischen Containerschiffe durchdrücken. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich an einem Eisenträger festzuhalten, der zufällig aus dem Wasser ragte, und auf Hilfe zu warten. Eine Gruppe pensionierter Seeleute, die im Europoort nach Schiffen Ausschau hielten, wurde bald auf meine Notlage aufmerksam. Einer von ihnen, ein Mann, dem die Weite des Ozeans in die Augen gebrannt war, hat die Angewohnheit, immer ein Seil mit einem Anker in seinem Auto mitzuführen. Mit einem stolzen Gefühl der ehrenvollen Pflicht, das sich bald in Belustigung verwandelte, zog er mich aus dem Wasser und scherzte mit seinen Kumpels über seinen Fang des Tages. 

Es war klar, dass es an dieser Stelle zu gefährlich sein würde, die Hauptroute der Industrie, den Nieuwe Waterweg, zu nehmen. Für diese Strömungen bedeutet ein menschlicher Körper nicht mehr als irgendein schwimmendes Stück Müll. Ich musste einen Umweg nehmen, also bog ich schnell und scharf links in den Delfskanal ein. Das ist ein viel schmaleres Gewässer, das mitten durch das Zentrum von Rotterdam führt.  Der Kanal sah sehr ruhig und friedlich aus, und ich freute mich auf einen entspannten, introvertierten Tauchgang. Ich wies Piet an, diese Sequenz in perfektem Gleichgewicht zu filmen, die Wasserlinie am klassischen goldenen Schnitt zu halten und sich sehr langsam, fast träge zu bewegen, als würde man sich durch Schlamm bewegen.

© VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Das Wasser war viel kühler als ich erwartet hatte. Die Sichtweite war geringer als je zuvor. Als ich meine Hand vor mir hielt, konnte ich kaum meine fünf Finger erkennen. Ja, es fühlte sich klaustrophobisch an. Aber du hättest diese Farben sehen sollen! Der Schlamm enthüllte ein atemberaubendes Spektrum sich ständig ändernder Schattierungen, die sich kontinuierlich von graugrün zu fast neongelb, dann zu rotbraun und wieder zu grau veränderten. Wenn ich nach oben blickte, konnte ich das Glitzern der Sonne und den intensivsten, perfekten mittelblauen Farbton des Himmels ausmachen. Ich drehte mich auf den Rücken, tauchte mit dem Gesicht nach oben und fühlte mich dem Himmel entgegen gesaugt. Jegliches Gefühl für Zeit oder Schwerkraft war verschwunden. 

Plötzlich spürte ich eine tiefe Gewissheit, dass ich auftauchen sollte, um eine Orientierung zu finden. In dem Moment, in dem ich die Oberfläche erreiche, höre ich Piet in völliger Panik schreien: KLAARAAAA!!!! 

KLAAAAAARAAAAA!!!! Das war der Urschrei der Todesangst, ein Schrei, der mir noch in den Knochen sitzt. Was? Ich habe nichts gesehen. Ich drehte mich um. Ein Containerschiff rollt direkt auf mich zu, diese Masse aus Stahl, hoch wie ein Gebäude, ich schwamm und schwamm, ich glaube, ich hatte nicht einmal Zeit zu atmen. 

© VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Findest du immer den richtigen Weg unter Wasser?

Nein, nicht immer. Eines sonnigen Tages war ich gezwungen aufzutauchen, weil der Kanalboden so stark roch, dass ich mich fast in die Schläuche meines Atemgerätes hinein übergab. Auch spürte ich ein gewisses Zupfen und Zerren an meiner Ausrüstung. Ich tauchte auf und fand mich umzingelt von jungen, unfassbar fit aussehenden Ruderinnen mit roten Bäckchen. Eine von ihnen hatte sich an der Schnur meiner Boje festgezurrt. Zu meiner Verwirrung befanden wir uns direkt an einer aus dunkelrotem Ziegel erbauten Stadtmauer mit runder Toreinfahrt. Ich war wohl in den Wassergraben einer mittelalterlichen Stadtanlage geraten. Das erklärte auch den Gestank, eine Stadtgeschichte von Verwesung und Pest, die mir noch tagelang im Gaumen sitzen sollte.

Wo ich sei, fragte ich die etwas perplex dreinblickenden jungen Frauen. »Delft.« – »Delft! Delft?« Wo es denn hier zum Rhein gehe. Sie wiesen in die entgegengesetzte Richtung. Trotz Kompass hatte ich mich im Irrgarten der holländischen Wassersysteme vertaucht. Nachdem ich den Ruderinnen von meinem Vorhaben der Europa-Durchtauchung erzählte, entschlossen sie sich, mich noch ein Stück zu begleiten. Feierlich in Gänseformation rudernd, eskortierten sie mich zu den Stadtmauern Delfts.

© VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Einen Einblick in das, was wir unter Wasser sehen, gibt uns deine Installation. Was siehst du noch auf deinen Reisen? Gibt es eine besonders wertvolles Erlebnis für dich?

Es war im Hotel Ocean Maritime, in dem ich zwischen zwei Tauchgängen Zuflucht fand. Auf einem Lastkahn erbaut, sitzt es direkt im Hauptkanal, seine Fenster überblicken das Kommen und Gehen der Frachtschiffe, die in die See hinausfahren.

Es wird von pensionierten Seeleuten betrieben, und die freundliche Seele, die mir beim Schleppen meiner Ausrüstung half, verstand meine Beklommenheit. In der Kapelle werden alle guten Seelen für den morgigen Tauchgang gesammelt.

Als wir in meinem Zimmer ankamen, erzählte er: Einmal im Jahr, immer am gleichen Tag, kommt eine Geschäftsfrau in unser Hotel. Immer, wenn wir in diesem Zimmer ankommen, zieht sie diesen Sessel ans Fenster. Sie bringt ein Buch mit, wobei dieses Buch auf ihrem Schoß liegen bleibt. Zwei Tage lang sitzt sie an diesem Fenster und schaut auf das Wasser.

Ich bin überzeugt, dass das Beharren auf Komplexität und Widersprüchen und das sich Abwenden von sofortigen, effizienten Antworten und Lösungen heute besonders wichtig ist. 

Biografie

  • * 1975 in Pilsen, Tschechien
  • Studierte bis 2003 an der Akademie der Künste in München, 2005 an der Columbia University in New York und 2012 an der Rogue Film School in Los Angeles
  • lebt und arbeitet in Berlin
  • Ihre künstlerische Praxis umfasst Performance, Video, Zeichnung und Skulptur und wird konzeptionell durch Erzählungen von selbst auferlegten Unternehmungen zusammengehalten. Hobzas fortlaufendes Projekt Diving Through Europe begann 2010 und nutzt gelebte Erfahrungen als konzeptionelles Material, welches sie in verschiedene Medien übersetzt.