Bon Voyage!
Karabé: Papierboot / Paarungsgesang
ein beitrag von Samuel Herzog
Papierboot
Sie sassen überall um ihn herum in den Büschen und Bäumen, auf Felsbrocken und Blüten, an Grashalmen und morschen Ästen. Es kam mir vor, als schauten sie dem Jungen bei seinen Versuchen zu, ein Papierboot zu falten und es über ein kleines Bächlein in den Lac Bouch hinabgleiten zu lassen. Sobald die Sonne scheint, bringen die Bùmbiùs ihre überproportional mächtigen Deckflügel in Schwingung und provozieren so ein summendes Geräusch, einen ‹Gesang›, der dem Brummen der Bienen nicht unähnlich ist. Man weiß bis heute nicht, warum sie diesen Sound produzieren – Karol Zhuki, die Grande Dame der lemusischen Insektenforschung, vermutet, es geschehe «aus purer Freude».
Die Mittagssonne wärmte die Luft und obwohl ich sicher zehn Meter von dem Knaben entfernt auf dem Wanderweg stand, füllte der Chorgesang der Insekten meine Ohren und mein Gemüt, das fluffige Sommergefühle durch Brust und Glieder strömen ließ. Der Bub indes schien die Käfer gar nicht zu bemerken, sosehr war er darauf konzentriert, Blatt um Blatt von einem Schreibblock zu reißen und zu etwas zu falten, das er für ein Papierboot hielt und wieder und wieder mit erwartungsvollem Gesicht auf die Oberfläche des Rinnsals setzte, das gemächlich an ihm vorbeifloss. Wenige Meter von ihm entfernt klebten zahllose Papiere an Steinen und Ästen fest, denn die Konstruktionen des kleinen Ingenieurs bogen sich, kaum ließ er sie los, wieder auf und verfingen sich sofort am nächsten Hindernis. Wenige Blätter nur hatten es bis zum See geschafft, wo sie wie weiße Quallen knapp unter der Wasseroberfläche trieben.
Der Bùmbiù (Pyknotero susurrans) lebt in grosser Zahl am Mont Kara. Der Käfer aus der Familie der Megapterygae wird höchstens 8 mm groß, hat jedoch eine Flügelspannweite von 80 mm. Er kann seine Flügel sechs Mal falten und versteckt sie unter mächtigen Deckeln, die ihm ein plumpes
Aussehen geben. Diese tiefschwarzen Flügeldecken weisen Streifen auf, die in verschiedene Richtungen gehen. Das Tier ernährt sich von Läusen. Bei Sonnenlicht bringt der Bùmbiù seine Deckflügel in Schwingung und produziert so ein lautes Summen.
Ich wollte zum Mont Kara aufsteigen, um einen Neburlucanus grandicornis zu finden und war schon spät dran. Doch der kleine Kapitän tat mir leid und so beschloss ich, ihm zu zeigen, wie man ein Papierboot so faltet, dass es sich nicht gleich wieder auseinanderlegt. Ich winkte, rief ihm ein freundliches Hallo zu und watete durch das hohe Gras zu ihm hinüber. Als ich neben ihm in die Hocke ging, schaute er mich mit überraschten Augen an, als sei ich eben aus dem Nichts in seine Welt geplumpst.
«Soll ich dir zeigen, wie man ein Papierboot faltet? Eines, das richtig gut schwimmt?», fragte ich und deutete auf die zahllosen Blätter, die bereits Schiffbruch erlitten hatten. Der Bub sagte kein Wort und also wiederholte ich meine Frage. Keine Reaktion. Vielleicht sprach er kein Französisch. Ich versuchte es, so gut ich konnte, auf Lemusisch. Nichts. Also ging ich zur Gebärdensprache über und zeigte schließlich auf das schon zwei Mal gefaltete Blatt, das er in seinen Händen hielt. Er verstand mich auch jetzt nicht und so zog ich das Papier sanft aus seinen Fingern, machte ihm Etappe für Etappe vor, wie man ein Papierboot faltet und setzte mein Werk dann aufs Wasser. Fröhlich hüpfte das Schifflein an Steinen und Ästen vorbei das Bächlein hinunter und schoss mit Schwung auf den See hinaus, wo es von einem Lufthauch erfasst und elegant über die Oberfläche getrieben wurde. Triumphierend schaute ich den Jungen an, doch der schien keinerlei Freude an unserem Erfolg zu haben. Im Gegenteil, er wirkte jetzt fast noch niedergeschlagener als zuvor. Ich setzte mich auf einen Baumstrunk, vielleicht wollte er ja doch mit mir sprechen. Aber er stand auf, klemmte sich den Block unter den Arm, schüttelte leicht den Kopf und ging wortlos an mir vorbei in Richtung Ahoa davon. Was für ein seltsamer, was für ein trauriger kleiner Kerl. Als er ganz verschwunden war und ich mich aufmachen wollte, meine Wanderung fortzusetzen, wurde ich mir bewusst, dass auch bei mir die sommerliche Euphorie verduftet war, die ich eben noch verspürt hatte. Und jetzt fiel mir zudem auf, wie ruhig es auf einmal war. Die Bùmbiùs sassen noch in den Büschen und Bäumen um mich herum, doch sie hatten aufgehört zu singen.
Paarungsgesang
Von den Ufern kleiner Seen geht ein Sog aus, dem ich kaum entziehen kann. Ich muss so nahe hin, dass meine Nase das Wasser riechen kann, dass meine Zehen es schlürfen könnten. Auch am Lac du Nombril bei Salé war das nicht anders. Obwohl es in Strömen goss, schlüpfte ich aus meinem Auto unter einen Schirm und stieg die Böschung hinab. Die nassen Halme des Ufergrases legten sich klebrig an meine Beine und die Tropfen prasselten mit solcher Wucht auf das gespannte Tuch über meinem Kopf, dass mir von dem Krach fast schwindlig wurde. Als ich an der Wasserkante anlangte, setzte der Regen mit einem Mal aus. Völlige Stille nun, nur noch das elektrische Sausen in meinen Ohren. Über dem quecksilbrigen Seespiegel hing ein feiner Nebel und auch von den Nelkenbäumen am anderen Ufer stieg ein leichter Dunst auf. Das Licht wirkte, als könne es sich nicht entscheiden, die Welt noch einmal taghell werden zu lassen – doch auch für Dämmerung war es ihm offenbar noch zu früh. Ein Frosch ruderte sich vom Schilfgürtel in die Mitte des Teiches und riss dort weit das Maul auf, ohne indes das leiseste Quaken von sich zu geben. Lautlos landete links von mir auf einem kleinen Inselchen ein Silberreiher.
Dann erklang rechts ein Räuspern, das alsbald in ein Wimmern überging, um schließlich zu einem eiernden Flöten anzuschwellen, das in einem Moment jämmerlich klang, im nächsten berückend schön, voller verzagter Sehnsucht. Zweifellos sass da eine Tragùde im Schilf und gab sich ihrem berühmten Paarungsgesang hin, der gewöhnlich nur nachts zu hören ist.
Die Tragùde (Litera canens) lebt im Landesinnern am Rand von stehenden Gewässern. Der Käfer aus der Familie der Salpinxae wächst 30 mm lang und kann zehn Jahre alt werden. Er verbringt die meiste Zeit allein und paart sich während seines Lebens höchstens drei Mal, obwohl
Männchen und Weibchen Nacht für Nacht ihren Lockgesang anstimmen. Die Tragùde ernährt sich von toten Fischen, die sie mit ihrem trichterartigen Schlund von der Wasseroberfläche saugt. Sie hat nur vier Beine, dafür aber einen beweglichen Rückenstachel.
Die Ränder kleiner Seen ziehen mich an, weil ich überzeugt bin, direkt von der Wasserkante aus müsste ich mehr entdecken können, müsse die Welt etwas Neues preisgeben. Und fast jedes Mal, wenn ich dem Ruf eines Tümpels folge, werde ich von einem besonderen Erlebnis überrascht, verliebe ich mich für ein paar Momente in eine Farbe, einen Duft, einen Klang oder das Bröckeln der Uferkiesel unter meinen Sohlen.
Glossar
Die kleine Gemeinde Ahoa am südlichen Abhang des Mont Kara wurde in den 1850er Jahren von Siedlern aus Zentraleuropa gegründet, deren archaische Holzbehausungen heute noch zu sehen sind. Ahoa bedeutet «Mund» in der Sprache der Kloi. Das Dorf ist heute vor alle für seinen Safran bekannt.
Die Banque nationale lémusienne (BNL) ist das wichtigste Finanzinstitut der Insel. Sie wurde 1818 von Oscar I. als Banque de Lemusa gegründet mit dem Ziel, den lemusischen Franc zu sichern. 1923, anlässlich der Einführung des neuen Franc, wurde sie in Banque nationale lémusienne umbenannt. Als Zentralbank der Insel ist es ihre Aufgabe (namentlich via Steuerung von Zinshöhe und Geldmenge) Preisniveau und Geldwert zu stabilisieren, indirekt auch Wirtschaftswachstum zu fördern, die Währungsreserve zu erhalten und den Staat zu refinanzieren. Außerdem gibt die BNL Banknoten heraus und bringt sie in Umlauf. Auch das Logo der Bank, drei Buchstaben unter einer Art Palme oder Schirm, stammt von 1923.
Der Chnou (CHN) ist seit dem 1. April 2018 die offizielle Währung von Lemusa und ersetzt den bis dahin gültigen Franc. Der Name geht auf ein altes Längenmaß zurück, das sich an der Breite des Knies orientiert und stammt aus der Kultur der Mai-té.
Bis zum 27. Juni 2016 war Lemusa eine Präsidialrepublik, dann brachte sich Odette Sissay mit Unterstützung der Polizei an die Macht. Seither ist das Land eine Diktatur.
Nach Diane Le Tripudier benanntes Institut an der Rue Nanio im Quartier de l’Opéra von Port-Louis. Wird von der Universität betrieben und bietet vor allem Französisch- und Lemusischkurse für Ausländer an.
Die nationale Fluggesellschaft von Lemusa wird erst 1973 gegründet und durchlebt eine wechselvolle Geschichte. Die Flaggschiffe der heutigen Gesellschaft sind zwei Airbus A320-200, die mit Zusatztanks ausgerüstet sind und Strecken von mehr als 10’000 km bewältigen können. Im Zentrum des neuen Logos der Lemusair steht ab 2016 die lemusische Urwachtel Kalepsi. Sie wird von hinten beim Startlauf gezeigt, was etwas unbeholfen aussieht. Das Logo wurde in den Medien vielfach spöttisch kommentiert.
Das Lemusische entsteht ab 500 aus den verschiedenen galloromanischen Dialekten der Siedler, die in jener Zeit höchstwahrscheinlich direkt aus Europa auf die Insel gelangen. Die Basis des Lemusischen stellen Latein respektive Vulgärlatein dar, ergänzt durch eine ganze Reihe von gallischen und fränkischen Wortstämmen (krendjé «fürchten» von bretonisch kren «Zittern»; kalju «Stein» von gallisch caljo; lischjié «lecken» von althochdeutsch lecken).
Die Gegend um das Dorf Salé war einst für ihre Schweine berühmt, die vor allem am Ufer des nahen Lac du Nombril in grosser Zahl gezüchtet wurden. Heute steht das Gebiet unter Naturschutz. In den Wäldern wachsen Gewürznelkenbäume, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts auch bewirtschaftet werden.
Verwendete Literatur
Lucie Deslovo: Mots musés. Proverbes de Lemusa
Port-Louis: Librairie Port Louis, 2018.
Jana Godet: Ist wahr! Kleine Geschichten aus Lemusa
Port-Louis: Édition Ruben66, 2017.
Elsa Mudame, Gregor Muelas (Hrsg.): L kom Lemusa
Port-Louis: Lemusa Office de Tourisme (LOT), 2019 [2., 1. 2012 unter dem Titel .sl].
Rose Ribette: Mil Mistiks. Les secrets de l’île des épices
Port-Louis: Édition Ruben66, 2016.
Karol Zhuki: Karabé. Un manuel pour voyager dans le monde des coléoptères de Lemusa
Mit einem Vorwort von Viktor Schefschuk. Port-Louis: Maisonneuve & Duprat, 2016 [3., 1. 1999].
Samuel Herzog (*1966) schreibt über seine Reisen, auch wenn sie ihn manchmal nur auf das Dach seiner Wohnung führen, beschäftigt sich mit kulinarischen Themen und widmet sich literarisch-künstlerischen Projekten wie der fiktiven Insel Lemusa, deren Kultur er seit 2001 in Kunsträumen und Publikationen vorstellt. Seit 2002 lebt er in Zürich.