Kopfreise
Private und öffentliche Sphären werden durch die Technologie zunehmend hybrid.
Dagmar Keller im Interview
Was war das kurioseste Gespräch anderer Personen, an dem du (un-)gewollt via Smartphone teilgenommen hast?
Als kurios habe ich eigentlich keine der Videocalls, denen ich (ungefragt) beigewohnt habe, empfunden. Und es geht mir auch gar nicht darum, kuriose Situationen zu zeigen. Im Gegenteil. Die Aufnahmen sind ja in China entstanden und in den meisten Videocalls wurde chinesisch gesprochen. Ich spreche nur ein paar Brocken chinesisch, insofern war ich darauf angewiesen das Gesehene zu interpretieren. Viele Situationen, die sich vor meinem Auge abspielten, empfand ich sogar eher als universell oder archetypisch:
Väter, die ihren Kindern aus der Ferne einen Gute-Nacht-Kuss geben. Flirtende Teenager, Paare, die sich sehnsuchtsvolle Blicke schenken. Menschen, die von dem Anruf gerade aus dem Schlaf gerissen worden sind und sich verwundert die Augen reiben.
Kurios war vielleicht eher die Tatsache, dass sich an einem der meistbesuchten Orte Shanghais in einem nicht abreißenden Strom an Menschen diese sehr privaten Momente in dieser Masse direkt vor meinem Auge zutrugen. Das war einerseits dem speziellen Ort und der speziellen Stimmung an diesem Ort geschuldet, – ich hätte wohl nur an wenigen Orten auf der Welt solche Aufnahmen machen können – und dennoch zeigen die Aufnahmen etwas, was man überall auf der Welt beobachten könnte; nämlich, dass private und öffentliche Sphären durch die Technologie zunehmend hybrid werden. Das wollte ich fotografisch fixieren.
War es dir unangenehm, an manchen Situationen teilzuhaben?
Wer kennt diese Situation nicht, dass man im Zug sitzt und ein privates Gespräch mit anhört, ohne es zu wollen.
Für dear to me habe ich diese Situationen allerdings ganz bewusst aufgesucht, weil es mich fasziniert hat, dass ich vom öffentlichen Raum aus virtuell in verschiedenste Regionen Chinas in unterschiedlichste häusliche Situationen „reisen“ konnte und dort Menschen porträtieren konnte, denen ich auf andere Weise nie begegnet wäre.
Aber natürlich war (und ist) mir auch bewusst, dass nicht jeder damit einverstanden sein wird, was ich da mache. Insofern war es zu Beginn immer auch eine Überwindung, den Menschen beim Videocall mit der Kamera so nahe zu treten. Zu meinem Erstaunen, hat aber selten jemand ablehnend auf mich reagiert. Viele waren natürlich von ihrem Videocall absorbiert und haben es nicht mitbekommen, dass ich sie dabei fotografierte, aber es gab auch Menschen, die auf mich reagierten und mich in Ihren Videocall einbezogen. Manchmal wurden mir dann auch die Gesprächspartner*in vorgestellt und ich durfte ein Bild von ihnen machen. Manchmal wurden dann auch noch die anderen Familienmitglieder herbeigerufen und ich durfte auch sie fotografieren.
An anderen Orten und in anderen Situationen hätte man womöglich ganz anders auf mich und meine Kamera reagiert, aber die Fotografien sind an einem sehr speziellen Ort entstanden. Und zwar am sogenannten „Bund“ in Shanghai, der Uferpromenade entlang des Huangpu Flusses, direkt gegenüber der ikonischen Skyline von Pudong. Zumindest vor Corona-Zeiten pilgerten jeden Abend tausende Menschen dorthin um die spektakulär beleuchtete Skyline zu sehen. Die Atmosphäre war ausgelassen und viele Menschen schienen dort den Wunsch zu verspüren, ihre Lieben daheim an ihrem Erlebnis teilhaben zu lassen. So brachten sie das Livebild ihrer Lieben aus dem privaten Raum, wo diese vielleicht gerade am Küchentisch saßen oder im Bett lagen, via Videocall auf Ihren Smartphones in den öffentlichen Raum.
Für mich eröffnete sich hier die Möglichkeit einer ganz neuen Art des Porträtierens, indem ich die Bildproduktion meines Gegenübers miteinbeziehen und verschiedene Räume und Perspektiven in einem Bild festhalten konnte.
Wie ist es in den Wohnzimmern Anderer?
Das Interessante für mich ist, dass ich die unterschiedlichsten Räume und Ausschnitte des Alltagslebens zu sehen bekam: Von hell erleuchteten Wohnzimmern mit prominent platziertem TV, wo die ganze Familie beisammen saß, zu einfachsten privaten Rückzugsräumen bis zu vollgestopften Wohnheimzimmern, wo im Hintergrund noch Mitbewohner*innen zu sehen waren. Manchmal bekam ich im Verlauf des Videocalls Teilansichten von verschiedenen Zimmern zu sehen. Bei einem langen Videocall, den ein Vater vom „Bund“ aus mit seinem Kind, das zu Hause war, führte, lief das Kind irgendwann mit dem Smartphone durch die Wohnung und öffnete die Badezimmertür, wo die sichtlich überraschte Mutter, nur ein Handtuch um den Kopf gewickelt, ihre Zähne putzte.
Biografie
- * 1972 in Donaueschingen
- Studierte an der Akademie der Künste in Düsseldorf und an der Hochschule für Medien in Köln
- Lebt in Düsseldorf und anderswo
Ausstellung
Bon Voyage!
Reisen in der Kunst der Gegenwart
13. November 2020 – 16. Mai 2021