Entdeckungsreise

Das langsame Reisen ist so viel kreativer, produktiver und anregender als das schnelle Reisen.

16.02.2021

Simon Faithfull im Interview

Wie oft zeichnest du?

Das ist sehr unterschiedlich. Für mein Projekt Liverpool to Liverpool – eine Reise über den Atlantik auf einem Containerschiff – habe ich durchschnittlich sechs Zeichnungen pro Tag angefertigt. Aber ich habe auch Phasen gehabt, in denen ich sehr wenig gezeichnet habe, zum Beispiel gibt es ein Jahr, in dem ich nur eine einzige Zeichnung gepostet habe.

Hast du noch alle Zeichnungen im Kopf?

Nicht sofort… Manchmal, wenn ich zurückblicke, entdecke ich Zeichnungen und Orte, die ich vergessen hatte. Auch komme ich manchmal an vergessenen Orten in der physischen Welt vorbei, in Berlin oder London, und habe ein seltsames, plötzliches Gefühl eines Déjà-vu. Ein Ort oder ein Objekt, das ich durch meine Zeichnung – die ich vielleicht vor 18 Jahren angefertigt habe – viel besser kennengelernt habe und mich so erinnere.

Wie originell sind digitale Zeichnungen?

Knifflig… Jede Zeichnung ist eine Aufzeichnung von mir, wie ich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, irgendwo auf diesem Planeten stehe und versuche, diese Szene als eine Reihe von Linien zu erfassen. Dieser Komplex von Linien ist völlig subjektiv und absolut einzigartig. Aber das Paradoxe ist, dass die Bewegung meiner Hand nicht in Linien auf dem Papier festgehalten wird, sondern als eine Reihe von groben, digitalen Pixeln. Die Pixel werden niemals verändert, wenn ich sie einmal gemacht habe, aber jeder Druck dieser Zeichnung ist so authentisch wie ein anderer. Ich mache gerahmte Digitaldrucke, die in einer Auflage von zwei Stück verkauft werden, aber diese haben nur dann einen wirklichen Wert, wenn ich den Druck signiere und verspreche, keine weiteren mehr zu machen.

© Simon Faithfull, Foto: Carl Brunn

Deine Bilder reisen in Sekunden um die Welt, und du?

Das ist ein weiteres Paradoxon, das ich genieße. Covid hat mich derzeit vom Fliegen geheilt, aber in normalen Zeiten habe ich wegen meiner Lehrtätigkeit und Kunstprojekten oft ein Flugzeug nehmen müssen. Für die Kunstprojekte wähle ich dahingegen oft bewusst langsame Reisewege. So reise ich zum Beispiel mit dem Containerschiff über den Atlantik oder mit dem Fahrrad entlang der Flüsse Cam und Ouse in Ostengland. Ich betrachte das Zeichnen als eine Art „langsames Sehen“. Ich benutze ein selbst entwickeltes Zeichenprogramm auf meinem iPhone, um damit zu zeichnen, aber mein iPhone selbst könnte ein hochauflösendes Bild dieser Szene in einer 100stel Sekunde aufnehmen. Ich brauche vielleicht eine halbe Stunde, um eine Zeichnung zu machen, und ich genieße diese Langsamkeit. Ähnlich verhält es sich beim Reisen: Das langsame Reisen ist so viel kreativer, produktiver und anregender als das schnelle Reisen.

Biografie

  • * 1966 in Ipsden, England
  • studierte von 1994–1996 an der University of Reading und von 1986–1989 am Central Saint Martins College of Art and Design
  • lebt und arbeitet in Berlin und London