Entdeckungsreise

Vielleicht ist letzten Endes der wesentlichste Sinn allen Reisens, das Naheliegende mit neuen oder anderen Augen zu sehen.

11.05.2021

Timm Ulrichs im Interview

Welche Bedeutung hat das Reisen für dich und deine Arbeit?

Zunächst: Im Grunde genommen muss man zugestehen, dass dem Ludwig Forum mit „Bon Voyage!“ die Ausstellung der Stunde, ja des Jahres gelungen ist, erscheint der Titel doch wie eine ironische Anspielung zum „Lockdown“, zu dem die akute Pandemie uns zwingt. Er belegt aber auch das Bedürfnis, die Notwendigkeit des Menschen zur Bewegung und zum Ortswechsel. Wir bemerken nun, wie schwierig zu ertragen es ist, wenn Bewegungsdrang und -freiheit eingeschränkt sind; der verordnete allgemeine körperliche Beinahe-Stillstand überträgt sich dann auch aufs Mentale und Geistige. Blaise Pascal hat dazu bereits 1620 angemerkt: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Zwar habe ich nie einen Führerschein oder ein Auto besessen, bin aber vergleichsweise dennoch auch heute noch recht viel unterwegs, mit der Eisenbahn oder – in Berlin, Hannover oder Münster – mit einem meiner drei Fahrräder. Als Jugendlicher bin ich mit meinem Knabenfahrrad (noch ohne Gangschaltung!) viel auf Tour gewesen, von Bremen nach Paris, in zwei Tagen nach Berlin oder ins Kleinwalsertal geradelt, auch als Tramper viel auf Achse gewesen; Urlaubsreisen aber mache ich schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Ich neige eher zu Gedankenexpeditionen als zu körperlichen Reisen von A nach B, was angesichts der Lage der Welt und Umwelt nur gut sein kann. Wenn ich aber auf Reisen gehen muss, ausgestattet mit einer BahnCard 100, sitze ich gerne im Speisewagen und genieße den Ortswechsel, allerdings fast ausschließlich innerhalb unserer Landesgrenzen, da ich für mich und meine Kunst bislang nur wenige Auftrittsmöglichkeiten im Ausland finden konnte. Andererseits nehme ich an, dass ich in den sechzig Jahren meiner künstlerischen Arbeit beinahe jeden deutschen Ort mit mehr als dreißigtausend Einwohnern bereits heimgesucht habe – auch Aachen des Öfteren. Literatur und Musik lassen sich ja weitgehend immateriell, virtuell und digital vermitteln; Bildende Kunst hingegen wird sich aber wohl auch in Zukunft vornehmlich analog, in physischer Präsenz zeigen und daher wird weiterhin die Notwendigkeit bestehen, deren Autor*innen und Werke materiell, körperlich auf Reisen zu schicken. (Dass das Immaterielle, physisch Substanzlose nicht satt mache, belegt aufs Schönste die Geschichte des Prä-Konzeptkünstlers Till Eulenspiegel, der 1515/19 in einem Wirtshaus den Geruch des Bratens mit dem Klang des Geldes bezahlte.)

Was ist für dich schöner – das Losgehen oder das Ankommen?

Ich mag das eine nicht gegen das andere ausspielen – beides gehört eigentlich zusammen, mit den je damit verbundenen Geisteszuständen und Gemütsverfassungen. Der Beginn einer Reise – ob nun einer gedanklichen oder einer körperlichen ist bestimmt von Vorbereitungen und Planungen, Vorfreude, Aufregung und Erwartungshaltungen, auch Unsicherheiten und Unwägbarkeiten aller Art, bis hin zur Möglichkeit des Scheiterns. Die Ausführung der Reise und das Ankommen am Reiseziel sind dann gewissermaßen die Bewährungsprobe aufs Exempel und Gedankenexperiment; das Vorher der Aufbruchsstimmung wandelt sich alsdann im besten Fall in wohlige Erschöpfung und Entspannung, in Erholung und Genuss des Nachher. Für mich stellt sich die frühe Planungsphase, das Pläne schmieden, das Finden und Erfinden, das Ausdenken und Entwickeln der Ideen als der wichtigere Part dar, auch wenn ich die Ausführung meiner Werke und die Präsentation der Resultate – die ich dem Ankommen gleichsetze – ebenfalls für bedeutsam halte. Man braucht eine hochgesteckte Zielvorstellung, will man Pfadfinder und Wegbereiter sein und Neuland gewinnen; die Maxime „Sieh nach den Sternen! Gib Acht auf die Gassen!“ (Wilhelm Raabe, „Die Leute aus dem Walde“, 1862) ist mir da ein guter Leitgedanke, allemal wegweisender als das angebliche Konfuzius-Zitat „Der Weg ist das Ziel“.

Timm Ulrichs, Wegweiser Hier 40000km, 1969 / 2020, Siebdruck auf Aluminium, je 40 x 150 cm, Courtesy of the artist, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Carl Brunn

Wer reist mehr – Du oder deine Kunst?

Erholungs- oder Urlaubsreisen mache ich, wie gesagt, kaum, wohl aber Vortrags- oder sog. Geschäftsreisen und Kunsttransporte zum Auf- und Abbau meiner Ausstellungen und zu Eröffnungsveranstaltungen sowie routinemäßige Fahrten zwischen meinen drei Arbeitsstandorten Hannover, Berlin und Münster, was je innerhalb von vier Stunden möglich ist. Im Regelfall richte ich meine Werkspräsentationen selbst ein; ich delegiere diese Inszenierungen nur sehr ungern und bestehe auf deren Beaufsichtigung. Das macht Reisen unabdingbar. Allerdings spielen sich meine Engagements, wie erwähnt, mit wenigen Ausnahmen nur hierzulande oder im deutschsprachigen Ausland ab. Auslandsreisen in früheren Jahren konnte ich mir nur aufgrund von Einladungen der Goethe-Institute leisten, wobei natürlich die Frage offenbleibt, ob die von mir Besuchten ebenso viel von meinen Besuchen hatten wie ich. Dankbar bin ich dennoch, dass ich auf diese Weise nach Paris, Madrid, Barcelona, Budapest, Sofia, Tel Aviv, Izmir, Delhi, Bangalore, São Paulo, Melbourne und Yaoundé (Kamerun) reisen konnte. Aber all diese Unternehmungen waren keine Vergnügungsfahrten, sondern stets verbunden mit Ausstellungen, Vorträgen, Workshops und Symposien.

Wenn du dich zurückerinnerst oder nach vorn schaust: Auf welche Reise würdest du uns gern mitnehmen?

Am meisten beeindruckt hat mich der kulturelle Reichtum Indiens, zumal im „Goldenen Dreieck“, das Delhi, Jaipur und Agra bilden: Eine Ansammlung einzigartiger Sehenswürdigkeiten, die allesamt als Weltkulturerbstätten der Unesco bewertet werden müssten, hätte man dort das Geld, um Lobbyisten und Werbeagenten auszustatten, solche Titel einzuholen. Abschreckend für mich waren allerdings das aus materieller Not und Krankheiten überall sichtbare Elend und die dem Kastensystem geschuldete Rücksichtslosigkeit im Verhalten der Menschen: Eine unerträgliche, herzzerreißende Diskrepanz zwischen den historischen Schönheiten und Wundern einerseits und der grauenvollen Lebenswirklichkeit großer Teile der Bevölkerung andererseits. Mich mit (womöglich von bettelnden Schuhputzern auf Hochglanz gebrachten) blanken Schuhen auf Besichtigungstouren zu begeben, schien mir alsbald unmöglich; ich kam mir deplatziert vor und flüchtete außer Landes. Ich werde also niemanden als Reisebegleiter*in dorthin mitnehmen und empfehle, ganz im Sinne Pascals, wie oben zitiert, schön Zuhause zu bleiben und lieber in der Fantasie zu verreisen. Schon Xavier de Maistre begnügte sich (bereits 1790) damit, eine „Reise um mein Zimmer“ zu unternehmen, nur innerhalb seiner vier Wände. Diese oder eine Drehung um die eigene Körperachse können einer Weltreise gleichkommen. Nicht der kreuzfahrende, kilometerfressende („All-inclusive“-) Pauschalreisende kann zum Kolumbus werden, sondern eher der Forschungsreisende, Abenteurer*innen und Entdecker*innen, der/die sich auf „Gedankengänge in Vorstellungsraum“ begeben (so nannte ich 1970 eine Ausstellung). Dazu lade ich Sie gern ein; begleiten Sie mich, indem Sie meine Werke bedenken, einen Hinweis ganz in diesem Sinne gibt ja bereits das wegweisende Schild „Hier 40000 km“.

Timm Ulrichs, THE END, 1981, Druck auf Leinwand, 150 x 150 cm, Courtesy of the artist, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Foto-Hoerner, Hannover

Das zweite Werk in der Ausstellung, „THE END“, thematisiert deinen eigenen Tod. Wie gehst du damit um?

Der Mensch ist wohl das einzige Lebewesen, das von der eigenen Sterblichkeit weiß, und aus Verzweiflung angesichts des unvermeidlichen Todes hat er die absurdesten und zweifelhaftesten Theorien, Ausflüchte und Fluchtwege ersonnen. Alle Religionen und ihre Versprechungen von Formen des Weiterlebens nach dem Tod (in Himmel oder Hölle), von Wiedergeburt und Wiederauferstehung speisen sich aus dieser Todesangst, aber ebenso der Wunsch und das Streben nach Ruhm, nach einem Überdauern über den Tod hinaus durch „unsterbliche Taten“ und Werke, die im Leben Erkenntnis und Sinn und nach dem Ableben ihres Schöpfers/ihrer Schöpferin bleibende Erinnerung stiften mögen. Jedes Werk hat, neben Erwerbsquelle, Unterhaltungs- und Belehrungssujet oder Mittel zum Imponiergehabe zu sein, auch stets Souvenir-Charakter; das gilt für die nur vermeintlich ewigen Pyramiden der Pharaonen ebenso wie für die nur scheinbar ephemer gedachten Improvisationen eines heutigen Musikers/einer Musikerin. Meine Sterblichkeit und Vergänglichkeit habe ich aus all diesen Gründen mehrfach und schon früh thematisiert, etwa mit meinem Grabstein, dessen Epitaph lautet: „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen!“ (1969), als auch mit meiner 1992 eingeweihten Grabstätte auf Harry Kramers „Künstler-Nekropole“ in Kassel, die als kopfstehender, in die Erde eingelassener lebensgroßer Hohlkörper-Abguss meines Körpers sowohl Kunstwerk ist als auch Denkmal (in diesem Fall eher Anti-Denkmal, da nicht monumental-aufrecht nobilitierend, sondern als Leerstelle sich unsichtbar machend) und damit doppelt Respekt einfordernd. Der Friedhofsbesuchende wird im Akt des Betrachtens veranlasst, den Kopf, den Blick zu senken, in trauernder Haltung nach unten zu schauen und durch die Glasscheiben-Abdeckung ins dunkle negativ meines Körpers zu sehen, in das eines Tages meine Asche eingegeben wird. Hier also kommt alsbald alles zusammen: Eine zeitgenössisch-zeitgemäße Skulptur, eine vom Bestatteten selbstgestaltete bleibende Stätte des Gedenkens, und auch „der Künstler ist anwesend“ in seinen sterblichen Überresten. Die Augenlid-Tätowierung schließlich, 1981 ausgeführt, leitet sich ab von den End-Einstellungen von Spielfilmen: Wenn ich dereinst meine Augen endgültig schließe, meine Augenlider wie ein Filmvorhang sich senken, mein „Lebens-Film“ also zum Ende kommt und ich meine letzte Reise antrete, verabschiede ich mich vom Leben und meinem Publikum mit diesen dann wirklich letzten Worten, mit lachendem und weinendem Auge zugleich. Vielleicht ist letzten Endes ja der wesentlichste Sinn allen Reisens, des Schweifens in die Ferne, nach der Rückkehr aus der Fremde das Eigene, das Naheliegende, des Hier und Heute und Jetzt mit neuen oder – wie man sagt – anderen Augen zu sehen.

Biografie

  • * 1940 in Berlin
  • Selbsternannter Totalkünstler
  • Lebt und arbeitet in Hannover