Entdeckungsreise
Es geht um die Wahrnehmung und Herausforderungen des Raumes und der Ordnungen, in denen wir leben.
Till Krause im Interview
Deine Karte ist fast 20 Jahre alt: Was wäre heute wohl anders?
20 Jahre spielen vermutlich eine geringere Rolle für Veränderungen als kurzfristige Wechsel, wie die unterschiedlichen Tageszeiten, Wetterlagen und Jahreszeiten. Nachts ist ja die Raumwahrnehmung für uns Menschen völlig anders als tagsüber, bei Nebel anders als bei klarer Luft. Und im Winter, wenn die Äcker brachliegen und Bäume unbelaubt sind, hat eine Landschaft eine andere Gestalt als während der Zeiten, in denen alles wächst. Die Aufzeichnungen für die Karten des totalen Geradeausgehens unterlagen früh morgens anderen Bedingungen als abends. Und da man beim Geradeausgehen in der hiesigen Landschaft nur äußerst langsam vorankommt, maximal wenige Kilometer pro Tag, in bebauten Gebieten noch viel weniger, streckte sich die Durchquerung über unterschiedliche Jahreszeiten. In den Karten vermischen sich also Momentaufnahmen und Unzulänglichkeiten mit der Bemühung um objektive Genauigkeit. Das ist ja ohnehin das Interessante am Lesen von Karten: Sie „stimmen“ nicht, sondern sie leben aus der Differenz zu dem, wovon sie handeln. Diese Differenz ist beim Kartenlesen mit der eigenen Interpretation und Vorstellungskraft zu füllen. Erst darüber gewinnt die Karte Gestalt. Oft wird behauptet, die Kartografie strebe das 1:1-Verhältnis zu ihrem Gegenstand an. Ich denke das Gegenteil. In der kartographischen Annäherung geht es im Grunde um Differenz.
Aber klar, in den 20 Jahren hat sich einiges verändert. In und um Städte und Dörfer wurden viele bis dato offene Flächen bebaut. Und damals lagen schon einige Maisfelder auf der Strecke, aber seitdem hat in Deutschland der Maisanbau als Energie- und Futterquelle extrem zugenommen und erzeugt in gewissen Monaten riesige Blockbildungen im Raum. Solche Entwicklungen wirken sich auf all die verschiedenen Karten aus, die von der Durchquerung entstanden sind, besonders auf die Blickfeldkarte. Und sogar auf die Handykarte. Man versuche mal, mitten in einem hochgewachsenen Maisfeld zu telefonieren. Aufgrund der Entwicklung des Mobilfunks möchte man annehmen, dass die Handykarte anders zu zeichnen wäre als damals. Aber ob das wirklich stimmt, dafür müsste genau hingesehen werden. Möglicherweise sind die Unterschiede gar nicht so beträchtlich. Im Großen und Ganzen dürften die Karten von damals auch auf den heutigen Raum zutreffen, denn heute gelten noch dieselben Grundregeln für diesen Raum. Wären hingegen z. B. die Ideen des Grundbesitzes und der industriellen Verwertung von Boden, Wasser, Pflanze und Tier aufgelöst worden, dann sähen die Karten völlig anders aus.
Du kommst aus Hamburg. Warum hast du Kiel als Ausgangspunkt Ihrer Reise gewählt?
Es hätte jeder andere Ort sein können, um Raum zu testen. Der damalige Anlass war die Einladung der Kuratorin Enja Wonneberger in ihre Ausstellung Changes Possible, die im Außenraum in der Kieler Innenstadt stattfand. Von dem Ausstellungsort aus bin ich losgegangen. Als Zielpunkt habe ich die Galerie für Landschaftskunst in Hamburg gewählt, weil dort das Büro für viele unserer Außenraumprojekte liegt. Die Landkarten der Durchquerung wurden dann in der Kunsthalle zu Kiel inmitten der Abteilung für die Landschaftsmalerei des 19. und 20. Jahrhunderts gezeigt.
Gehst du gerne Umwege?
Es geht nicht um das, was ich gern mache, sondern um die Wahrnehmung und Herausforderungen des Raumes und der Ordnungen, in denen wir leben. Das Geradeausgehen ist dafür eine mögliche Figur, ebenso wie beispielsweise Das-Umwege-Gehen oder Das-Auto-nicht-unter-200-kommen-Lassen oder Eine-Stadt-Aufessen…
Biografie
- * 1965 in Hamburg
- seit 1992 Arbeit mit dem Künstler-Projektraum Galerie für Landschaftskunst
- Lebt und arbeitet in Hamburg